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Erinnerung an Herbert Liedtke

standard – 09. Dezember 2022

Herbert Liedtke
Herbert Liedtke © Fam. Mücke
Herbert Liedtke © Fam. Mücke

Prof. Dr. Herbert Liedtke verstarb am 22. November 2022 kurz vor Vollendung des 94. Lebensjahres. 1968 kam er an die Ruhr-Universität Bochum und wurde 1970 auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Geographie IV berufen. Bis zu seiner Emeritierung 1994 vertrat er in der Lehre vor allem die Geomorphologie, daneben landeskundliche Themen. Sein besonderes Forschungsinteresse galt seit seiner Studienzeit in Berlin der Formung der Erdoberfläche im Quartär. In seiner Dissertation (1956) klärte er die Entstehung des Thorn-Eberswalder Urstromtals mit dem Oderbruch und seine Beziehungen zu den Abflussrichtungen der Schmelzwässer des nordischen Inlandeises. Nach der Flucht aus der DDR 1959 habilitierte er sich 1967 an der Universität Saarbrücken mit einer Arbeit über die Oberflächenformen des Pfälzer Waldes.
Die Geomorphologie verdankt Herbert Liedtke wegweisende Erkenntnisse über geomorphologische Prozesse in Mitteleuropa während der letzten Eiszeit. Im Sinne einer präzisen Ausdrucksweise legte er stets Wert auf die Unterscheidung von Periglazial als einem Zeitabschnitt, in dem periglaziale, also kaltklimatische Oberflächenformungsprozesse außerhalb der Inlandvereisung stattfinden, und dem Periglaziär als dem zugehörigen Gebiet. Herbert Liedtke prägte und führte den Begriff Abluation in die Literatur ein, jene denudative Abspülung in Altmoränenlandschaften, die zuvor bestehende Höhenunterschiede im Glazialrelief ausglichen. So entstanden im Periglaziär des nördlichen Mitteleuropas vorwiegend durch Schneeschmelzwässer die weit verbreiteten Talsande in den Niederungen. Seine vielfach nachgedruckte Übersichtskarte der nordischen Vereisungen in Mitteleuropa diente Generationen von Geographie-Studierenden in ganz Deutschland nicht nur als Anschauungsmaterial, überzeugte Geographie-Studierende nutzten sie zugleich als Wandschmuck. In Forschung und Lehre betonte Herbert Liedtke immer wieder, in welch starken Maße die geomorphologischen Prozesse im Quartär die Nutzungsmöglichkeiten von Landschaften mitbestimmen.
Herbert Liedtke gehörte der Koordinationskommission für das DFG-Schwerpunktprogramm „Geomorphologische Detailkartierung“ an, das in den 1970er und 1980er Jahren zahlreiche Karten in den Maßstäben 1 : 25.000 und 1 : 100.000 initiierte. Er war maßgeblich an zwei Karten (GMK 25 Damme, GMK 100 Neuwied) beteiligt. Expeditionen führten ihn zweimal nach Spitzbergen, wo er das Periglaziär besonders gut studieren konnte, und in die Südsee, wo er Messungen zur Bodenerosion unternahm. Im Jahr 2002 erhielt Herbert Liedtke die Albrecht-Penck-Medaille für Quartärforschung; zudem ist er Träger der Silbernen Carl-Ritter-Medaille der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin.
Seine Forschungs- und Konferenzreisen verband er gerne mit längeren Aufenthalten in den besuchten Ländern und ihren Landschaften. Als Geograph der alten Schule verstand er Landschaft als einen Schlüsselbegriff für die Geographie, ungeachtet zwischenzeitlicher Stigmatisierung. Die heute äußerst vielfältigen Verständnisse von Landschaft interpretierte er in seinem Werk „Namen und Abgrenzung von Landschaften“ in Deutschland als Landschaften des allgemeinen Sprachgebrauchs. Er charakterisierte sie als Naturräume, historische und Wirtschaftslandschaften. Im Mittelpunkt steht die zwischen 1983 bis 2017 mehrfach verbesserte Karte 1 : 1 Mio., die der Mitarbeit im Ständigen Ausschuss für geographische Namen beim Bundesamt für Geodäsie entsprang. Dieser Ausschuss ehrte den langjährigen Vorsitzenden Herbert Liedtke (1982-1991) durch den Ehrenvorsitz. Er war zudem Mitglied in der Deutschen Akademie für Landeskunde, der Geographischen Kommission für Westfalen und der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.
Herbert Liedtke gehörte keiner geomorphologischen Schule an. Er kannte widerstreitende Modellvorstellungen der Reliefgenese, seien sie klimagenetischer oder quantitativ, systemtheoretisch-modellierender Natur, kommentierte sie stets unter Beachtung der in den Landschaften vor Ort angetroffenen lokalen Befunde. Seiner großen fachlichen Kompetenz und Übersicht, verbunden mit der fairen, abwägenden, vermittelnden und ausgleichenden Art war es zu verdanken, dass die deutsche Geographie ihn zum DFG-Fachgutachter wählte. Als Vorsitzender für die gesamte Geographie leitete er in der DFG den Fachausschuss, das Gremium der geographischen Fachgutachter.
Neben diesen fachlichen Aufgaben war Herbert Liedtke auch tätig im Dienst für Verbände, Fakultät und Institut. 1968-1972 war er Schriftführer des Verbands deutscher Hochschullehrer der Geographie und damit zugleich für den Zentralverband der deutschen Geographen und von 1972-1991 dessen Kassenwart. An der Ruhr-Universität Bochum führte er das Geographische Institut und die Fakultät für Geowissenschaften jeweils eine Amtsperiode als Institutsdirektor bzw. Dekan.
Noch nach seiner Emeritierung 1994 gab er Lehrbücher zur Physischen Geographie heraus, die Standardwerke geworden sind und sein umfangreiches Veröffentlichungsverzeichnis abrundeten. Ein Alleinstellungsmerkmal unter seinen vielen Publikationen sind die Karten, allen voran die geomorphologischen. Im Ruhrgebiet schätzt man bis heute seine geomorphologische Übersicht über das Ruhrgebiet, die in keiner landeskundlichen Regionaldarstellung fehlen darf. Alumni, die ihn im Hörsaal erleben durften, werden sich an die lebhaften, gestenreichen Erläuterungen zum Vormarsch und Rückzug des Inlandeises erinnern. Auf Exkursionen beeindruckte er durch kurzgefasste, präzise Erläuterungen, unterstützt durch Karten und – wenn griffbereit – mit Skizzen, die er mit einem aufgelesenen Stöckchen in die sandige, manchmal lehmige Bodenoberfläche ritzte. Dann war den meisten alles klar.
Als Mensch und Kollege stand Herbert Liedtke für die pragmatische Lösung von Herausforderungen, Problemen und Konflikten. Auftrumpfen war nicht sein Stil. Vieles hatte er bereits geregelt, während sich andere noch verkämpften. Und immer wieder fand er zu einer bewundernswerten Leichtigkeit des Seins. Regelmäßig glänzte er durch humorvolle Gedichte zu feierlichen Anlässen. Für seine Beisetzung hatte er eines ausgewählt, um es verlesen zu lassen. Es stammt aus der Saarbrücker Zeit von einer weinbaukundlichen Exkursion:

Des Weines Liebreiz und auch Tücken
Erfuhr ein jeder dann vor Ort.
Und gab‘s im Denken auch mal Lücken
Man fuhr getrost zu trinken fort.
Nun wünschen wir uns für die Reise
Dass sie gesund uns bringt nach Haus.
Und jeder träumt auf seine Weise
Wie fällt die nächste Wein-Tour aus?

Wir dürfen den Beitrag zur eigenen Trauerfeier als seine persönliche Geste an uns verstehen. Mit Herbert Liedtke verliert das Geographische Institut einen wertvollen Menschen, einen für die Geographie engagierten, für die Geomorphologie brennenden Kollegen, dem das Institut seit seinen Gründungsjahren einen großen Teil seines Ansehens im In- und Ausland zu verdanken hat.

Harald Zepp, 8.12.2022

P.S. Eine Laudatio auf Herbert Liedtke erschien 1994 anlässlich seiner Emeritierung, verfasst von Prof. Dr. Hans-Jürgen Klink, seinem langjährigen Kollegen im Institut, der im Februar 2022 im Alter von 88 Jahren verstarb:
Herbert Liedtke. Ein Forscherleben für die Geomorphologie und Landeskunde Mitteleuropas. In: Berichte zur deutschen Landeskunde 68, 6-24. https://www.deutsche-landeskunde.de/wpfd_file/bgl_bd_68_heft_1_1994_01_klink/



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Autor:
Ingo Tertel

Schlagworte:
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